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Ein Nachmittag
proză [ ]
Beitrag zur Geschichte eines kleinen Jungen

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de [Georg_Heym ]

2015-07-22  | [Acest text ar trebui citit în deutsch]    |  Înscris în bibliotecă de miron stefan



Die Straße kam ihm vor wie ein langer Strich, die Leute, die an ihm vorübergingen, schienen ihm wie lauter aufgeblasene weiße Puppen. Was wußten sie auch von seiner Seligkeit. Er hatte sie gefragt: »Darf ich Sie küssen?«, der kleine Junge, und sie hatte ihm ihren Mund hingehalten und er hatte sie geküßt. Und dieser Kuß brannte ihm tief in das Herz hinein, wie eine große reine Flamme, die ihn erlöste, die ihn glücklich machte, die ihn selig machte. Götter, er hätte tanzen mögen vor Seligkeit. Und der Himmel lief über ihn dahin wie eine große, blaue Straße, das Licht reiste nach Westen wie ein feuriger Wagen, und alle die glühenden Häuser schienen sein glühendes Feuer widerzustrahlen.
Er hatte das Gefühl eines starken brausenden Lebens, als hätte er noch nie so gelebt, als schwämme er wie ein Vogel hoch in der Luft, versunken in ewigem Äther, grenzenlos frei, grenzenlos glücklich, grenzenlos einsam.
Und das unsichtbare Diadem der Glückseligkeit lag auf seiner eckigen Kinderstirn und verschonte sie, wie eine nächtliche Landschaft unter dem weiten Aufbrechen eines Blitzes.
»Götter, ich werde geliebt, ich werde geliebt, wie man mich nur lieben kann.« Er ging schneller, er kam ins Laufen, als wäre die gewöhnliche, gemessene Bewegung zu langsam für den Sturm, der in seinem Herzen brauste. Und so rannte er die Straße herab zum Strande und setzte sich an das Meer.
»O Meer, Meer!« und er erzählte dem Meer sein Erlebnis, in einem kurzen Jauchzen, in einem zitternden Flüstern, in dem Taumel einer stummen Sprache. Und das Meer verstand ihn und hörte ihm zu, das Meer, auf dessen blauer dröhnender Weite seit so vielen Jahrtausenden der Orkan der Freude und das Lallen der Qualen widerhallte, wie ein ewiger Wirbelsturm über einer ewig unberührten Tiefe.
Er behütete ängstlich seine Einsamkeit. Wenn Menschen kamen, sprang er auf, lief er davon und kroch in die Dünen. Waren sie vorbei, so lief er wieder hervor ans Meer, dessen gewaltige Weite der einzige Becher war, in den er die Flut seines unendlichen Übermaßes fortgeben konnte.
Allmählich wurde der Strand belebter. Allenthalben blinkten weiße Kleider zwischen den Strandkörben vor, alte Damen kamen mit Büchern unter dem Arm. Helle Sonnenschirme wippten auf den schmalen Holzgängen, und die Kinder füllten wieder scharenweise die Sandburgen. Ruderboote fuhren aus, an den großen Segelkähnen wurden die Segel gehißt. Ein Photograph watete durch den Sand mit dem Kasten am Riemen über der Schulter.
Er sah nach der Uhr. Noch eine halbe Stunde, noch neunundzwanzig Minuten, dann wird er sie treffen. Er wird sie an der Hand nehmen, sie werden zusammen in den Wald gehen, da wo es ganz still ist. Und sie werden sich zusammen hinsetzen, Hand in Hand, verborgen im grünen Dickicht.
Aber was soll er zu ihr reden, damit sie ihn nicht langweilig findet. Denn sie ist schon wie eine kleine Dame, man muß sie unterhalten, man muß Witze machen.
Was soll er bloß zu ihr reden.
Ach, er wird überhaupt nichts sprechen, sie wird ihn auch so verstehen. Sie werden sich in die Augen sehen, die werden sich genug sagen.
Und dann wird sie ihm wieder ihren Mund hinhalten, er ihren Kopf leise in seinen Arm nehmen, so, so – er probierte es an einer Ginsterstaude -, und dann wird er sie küssen, ganz leise, ganz zart.
Und so werden sie beieinander sitzen im Walde, beieinander bis es dunkel wird; o wie schön, wie schön, wie unermeßlich selig.
Sie werden sich nie mehr verlassen. Er wird immer arbeiten, dann wird er schnell studieren, und eines Tages wird er sie heiraten. Und das Leben erschien dem Kinde wie eine klare gerade Straße, die in einem Himmel von ewiger Bläue zieht, kurz, einfach, ohne Ereignisse, wie ein ewiger Garten.
Er stand auf und ging über den Strand durch die spielenden Kinder, die Leute und die Strandkörbe hin. Ein Dampfer legte an, ein Strom von Menschen schwoll auf die Landungsbrücke zu. Es wurde geläutet. Er bemerkte nichts von alledem, alles, was sonst seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte, war verschwunden. Sein Auge war nach innen gerichtet, als müßte er alle seine Zeit darauf verwenden, den neuen Menschen zu studieren, der da mit einem Male aus seinem verschlossenen Kern gekrochen war.
Er kam an die Bank, wo er seine kleine Freundin treffen wollte; sie war noch nicht da.
Aber es war ja auch noch zu früh. Es fehlten ja noch zehn Minuten. Sie mußte wahrscheinlich erst noch Kaffee trinken, sicher hatte sie ihre Mutter noch nicht fortgelassen.
Er setzte sich einige Minuten auf die Bank, stand dann wieder auf, lief einige Male in dem kleinen Baumrondell hin und her. Jetzt fehlten noch zwei Minuten, jetzt mußte sie doch eigentlich schon zu sehen sein. Er schaute den Weg herunter nach ihr aus. Aber der Weg blieb leer. Seine Bäume verbargen niemand. Sie standen sanft vergoldet von der Nachmittagssonne ruhig in der Windstille, und durch ihr Laub zitterte das Licht auf den Weg, wie auf den Grund eines goldenen Baches. Der Laubgang war wie eine große, grüne, stille Halle und hinten in seinem Tore zitterte ein kleiner, blauer Streifen, fern wo Meer und Himmel ineinander verflossen.
Er zitterte. Er fühlte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. »Warum kommt sie nicht, warum kommt sie nicht?«
»Ach, ist das nicht ihr Hut, ist das nicht das weiße Band? Das ist sie, das ist sie.«
Und das Tor seiner Seele sprang auf, er fühlte sich wie von einem Sturme geschüttelt, er lief ihr entgegen. Als er näher kam, sah er, daß er sich getäuscht hatte. Das war sie ja gar nicht, das war ja jemand anderes. Und in demselben Augenblick war ihm, als würde etwas in ihm erstickt, als sollte er erwürgt werden.
Er hatte plötzlich dasselbe Gefühl, das er einmal gehabt hatte, als er aus einem Hause geführt wurde, in dem er an einem Totenbette gestanden hatte: eine Art Ekel oder Widerwillen vor sich selbst. Dieses eigentümliche besondere Gefühl bemächtigte sich seiner immer dann, wenn ihm etwas Unangenehmes entgegentrat, dem er nicht ausweichen konnte, eine mathematische Arbeit, eine Zensur.
Aber so stark wie eben hatte er es noch nicht gefühlt. Er konnte es beinahe auf der Zunge schmecken, bitter, wie etwas Graues.
Sein Blut schien zu stocken; ihn überkam eine Trägheit, die ihm unheimlich war. Seine Stirn war klein und grau, als hätte jemand sie mit dem Schatten seiner Hand bedeckt.
Er ging langsam nach dem Rondell zurück. »Aber sie wird noch kommen, gewiß.« Sie konnte sich ja verspäten. Wenn sie nur noch käme. Seinethalben konnte sie ja eine Viertelstunde zu spät kommen, wenn sie nur überhaupt käme.
Er sah wieder nach der Uhr. Die Zeit war vorbei, und der Sekundenzeiger lief immer weiter hinaus wie eine kleine dünne Spinne in einem silbernen Käfig. Ihr kleiner Fuß trat auf die Sekunden, die in kleinen Strichen hinter ihr hinfielen, wie eine Art winzigen Staubes auf einer winzigen Landstraße.
Nun waren schon vier Minuten vorbei, nun schon fünf. Und der Minutenzeiger stieg immer weiter auf den Stufen seiner kleinen Treppe herauf. Er wollte ihr entgegengehen. Aber, wenn sie nun von der anderen Seite käme, was dann? Und er schwankte, sollte er bleiben, sollte er gehen? Aber seine Unrast trieb ihn fort. Er lief wieder einige Schritte den Weg herunter, dann blieb er wieder stehen, er kehrte wieder um.
Er setzte sich auf die Bank, sah vor sich hin. Und mit jeder Minute verlor sich seine Zuversicht mehr. Bis um fünf Uhr wollte er noch warten, vielleicht käme sie noch.
Aus der Ferne hätte man ihn für einen alten Mann halten können, wie er da saß. Gekrümmt, in sich verkrochen wie jemand, über den viele Jahre Kummers dahingegangen sind.
Er stand noch einmal auf und ging langsam noch ein paar Schritte über den Schauplatz seiner kindlichen Tragödie.
Von fern hörte er eine Uhr schlagen, aber das war noch zu früh. Er verglich sie mit seiner Taschenuhr. Sicher, die dort schlug zu früh. Es fehlten noch drei Minuten an fünf.
Und in diesen drei Minuten bäumte sich noch einmal die Hoffnung in seinem Herzen auf, die Sehnsucht, wie eine sterbende Flamme aus einem verlöschenden Brande, wie das Fanal des Lebens aus dem letzten Herzschlag eines Sterbenden.
Jetzt, jetzt war es soweit. Jetzt schlugen alle Türme aus der Stadt hinter dem Walde. Er sah eine Glocke schwingen in der klaren Luft, oben im Schalloch eines Kirchturms. Und bei jedem dieser dröhnenden Schläge war es ihm, als würde ihm langsam, ruckweise, um seine Qual zu verlängern, das Herz aus der Brust gerissen. So, so, jetzt wird es bald draußen sein, dachte er.
Die Türme schwiegen, es wurde wieder still. Und in seiner Brust wurde es ganz leer, es war ihm, als wäre darin ein großes hohles Loch, als trüge er etwas Totes in sich herum.
Es kam ihm so vor, als hätte ihm jemand etwas Dumpfes in sein Blut gegossen. Davon wurde sein Kopf so schwer, davon wurde er so müde.
Über einem sonnigen Teich, der durch die Bäume der Anlagen herüberschimmerte, zeigten sich einige Rauchwolken aus dem Schornstein des Badehauses. Sie verflogen im Wind. Er sah ihnen teilnahmlos nach, wie sie im Lichte zergingen. Ein paar Stimmen wurden hinter den Büschen laut. Ein paar Kindermädchen kamen, die die Kinderwagen vor sich herschoben.
Sie setzten sich ihm gegenüber auf die Bank im Rondell, sie hoben die Kinder aus den Wagen, die sogleich über einen Sandhaufen purzelten.
Da stand er auf und ging fort, langsam, gedankenlos.
Er kam wieder an den Strand herunter. Er ging wieder durch die Strandkörbe. Da saßen noch die alten Damen mit ihren Büchern, da stand der Photograph vor einer Gruppe von Menschen. Er mußte wohl einen Witz gemacht haben, denn alle hatten lachende Gesichter.
Er wurde von seiner Leidenschaft nach dem Strandkorbe hinübergetrieben, in dem er am Mittag den Kuß bekommen hatte, wie ein kleines Schiff, das der Sturm erbarmungslos auf einen Felsen jagt.
Vielleicht saß sie darin. Das war seine letzte Hoffnung. Er schlich sich vorsichtig zwischen den Strandkörben durch, immer näher. Und die rote Fahne schien ihn von dem Dache heranzuwinken.
Nun war er ganz nahe. Eine ungewisse Angst hieß ihn stehen bleiben. Da hörte er ihre Stimme. Sie lachte. Und nun wieder eine andere Stimme, das war eine Knabenstimme.
Er schlich vorsichtig weiter in einem Bogen herum. Er warf sich in den Sand und kroch auf allen Vieren vorwärts. Als er so weit war, daß er sie sehen konnte, legte er sich hinter einen Sandhügel und hob den Kopf etwas über den Rand herauf
Da saß sie auf dem Schoß eines Jungen. Der Junge bog ihren Kopf herunter, gab ihr einen Kuß, dann ließ er ihn los. Seine Hand griff nach ihrem Bein, und fuhr langsam daran hinauf. Und sie lehnte sich an die Schulter des Jungen, weit zurück.
Der kleine Junge zog seinen Kopf wieder zurück und kroch davon, mechanisch ein Bein hinter dem andern, eine Hand hinter der andern.
Er empfand eigentlich nichts, keinen Schmerz, keine Qual. Er hatte nur den einzigen Wunsch, sich zu verstecken, irgendwo hinkriechen und dann ganz still liegen, irgendwo sich einen kleinen Fleck suchen im Strandhafer.
Als er weit genug war, erhob er sich aus dem Sand, ging er fort.
Auf seinem Wege traf er einen Schulkameraden, er verkroch sich hinter einem Zelt vor ihm. Von rechts kam seine Mutter und rief ihn herüber. Er tat, als hätte er nichts gehört. Er begann zu laufen, über die Strandkörbe und über die Menschen hinaus. Und bei seinem Laufen kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er heute schon einmal so gelaufen war, mittags, als er so glücklich gewesen war.
Da übermannte ihn die Qual. Er rettete sich schnell die Dünen herauf. Oben warf er sich hin, das Gesicht in den Halmen. Der Strandhafer nickte über seinem Kopf wie ein Wald, ein paar Libellen kamen summend durch die Halme.
Und das war das erste Mal im Leben des Knaben, daß er an einem Tage den Becher der Seligkeit und den der Qual trank, er, der verurteilt war, noch oft von den Extremen der tiefsten Qualen und des wildesten Glückes erschüttert zu werden, wie ein kostbares Gefäß, das durch viele glühende Flammen gewandert sein muß, ohne zu zerspringen.


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